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    Wer war Alfred Adler?

    Ein Text von Lisa Rauber, Psychoanalytikerin.
    Der Text steht auch zum Download zur Verfügung.

    Alfred Adler wurde am 7. Februar 1870 als zweites von sechs Kindern eines jüdischen Getreidehändlers im Wiener Vorort Rudolfsheim geboren.

    Da Adler in Wien geboren war, identifizierte er sich nicht mit seinem Herkunftsland dem Burgenland, (weswegen er bis 1911 ungarischer Staatsbürger war und einige Vorrechte entbehren musste, die in Wien nur Österreichern gewährt wurden). Er verbrachte den größten Teil seiner Kindheit in den Vororten von Wien, wo er mit nichtjüdischen Jungen spielte oder sich prügelte. Die Eltern waren nicht so streng wie die von Freud.

    Herkunft

    Alle Berichte über Adlers Leben erzählen von seinen Eskapaden und Kämpfen mit Gassenjungen. Dadurch wurde er notwendigerweise veranlasst, die Rolle der Gruppe der Gleichaltrigen und der Geschwister bei der Formung der Persönlichkeit stärker als Freud zu betonen.

    Adler war der Zweitgeborene, der sich von der Mutter abgelehnt, vom Vater aber beschützt fühlte. Deshalb konnte er wohl die Idee des Ödipuskomplexes niemals akzeptieren.

    Obwohl Adler ein Jude war und in seinem eigenen Land ein Ausländer, hatte er niemals das Gefühl, einer Minderheit anzugehören. Seine intime Kenntnis des Wiener Dialekts machte es ihm möglich, als Mann aus dem Volk öffentlich zu sprechen. Man kann daher verstehen, wie das Konzept vom Gemeinschaftsgefühl zum Mittelpunkt seiner Lehre wurde.

    Mit seiner Herkunft als "Gassenjunge" hat er später häufig kokettiert und daraus seine "Volksverbundenheit" abgeleitet. Er hatte keine religiösen und kulturellen Bindungen an das Judentum, weil seine Eltern aus dem ungarischen Burgenland stammten und dort die jüdische Tradition nicht ausgeprägt war.

    1904 ließ er sich sogar protestantisch taufen. Der amerikanischen Schriftstellerin Phyllis Bottome zufolge missfiel ihm der Umstand, dass die jüdische Religion nur für eine ethnische Gruppe da war, und er zog es vor,"eine dem universellen Glauben der Menschheit gemeinsame Gottheit zu verehren". Er wurde zusammen mit seinen Töchtern Valentine und Alexandra, aber ohne seine Frau Raissa getauft.

    Studium

    Während seines Medizinstudiums lernte er Raissa Epstein (seine spätere Frau), eine russische Studentin aus wohlhabendem Hause kennen. Sie hatte eine liberale Erziehung genossen, war eine überzeugte Feministin und um einiges politischer und radikaler als Adler selbst. Ihr Einfluss auf ihn war sehr beträchtlich. Sie war eine glühende Sozialistin und mit Trotzki befreundet.

    Sie war äußerst willensstark, und nach der Anfangszeit des grenzenlosen Glücks begannen bald die Schwierigkeiten. Der Kampf für die Emanzipation der Frau war auch schon zur damaligen Zeit etwas ganz anderes als das Zusammenleben mit einer emanzipierten Frau.

    Sigmund Freud

    Freud begegnete Adler Anfang des Jahrhunderts zum ersten Mal. Adler war 14 Jahre jünger als Freud und arbeitete als praktischer Arzt im Wiener zweiten Bezirk mit vorwiegend jüdischer kleinbürgerlicher Bevölkerung.

    Damals war er sehr angetan von Freuds Theorie über die unbewusste Motivation menschlichen Handelns.

    Er selbst beschäftigte sich zu dieser Zeit hauptsächlich mit der Sozialmedizin, der Hygiene und Prophylaxe im Gesundheitswesen. Seine erste Schrift erschien 1898 "Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe". Darin betont er die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheit. Er klagt die zeitgenössische Schulmedizin an, die an der Existenz von sozial bedingten Krankheiten einfach vorbeisieht.

    Von Anfang an ab 1902 nahm Adler auf Einladung Freuds regelmäßig an den Treffen der sogenannten Mittwochsgesellschaft teil.

    Ellenberger meint, Freuds Mittwochabend-Gruppe hätte eher zu neuromantischen Dichtern gepasst. Die Bildung einer geheimen Gruppe von sechs auserwählten Schülern, die sich zur Verteidigung der Psychoanalyse feierlich verpflichteten, wobei jeder von ihnen von Freud einen Ring bekam, war eine ungemein romantische Idee.

    Die Absolvierung einer Analyse war zu keinem Zeitpunkt Bedingung für die Aufnahme in die Gruppe. Freud hatte den Gedanken einer Lehranalyse damals noch nicht.

    Jones schreibt über Max Eitington : "Mit Freud verbrachte er drei Abende, und diese wurden auf langen Spaziergängen durch die Stadt mit persönlicher analytischer Arbeit ausgefüllt."

    So sah die erste Lehranalyse aus!

    Schnelles Gehen pflegte Freuds Gedankengang anzuregen; aber für seinen Begleiter war es manchmal atemberaubend.

    Der österreichische freudianische Analytiker Handlbauer meint, es sei ein interessanter Aspekt der Frühgeschichte der Psychoanalyse, dass die ersten Analysen im Gehen stattfanden unter starker motorischer Beteiligung und nicht im Liegen.

    Adler schrieb 1904 einen Aufsatz "Der Arzt als Erzieher". Darin verband er seine sozialmedizinischen Konzepte mit der Psychoanalyse. Er forderte die Erziehung der Erzieher als Prophylaxe der Neurosen.

    Zitat Adler: "Die Erziehung sollte schon von Geburt des Kindes mit der Erziehung der Eltern beginnen. Das mächtigste Mittel der Erziehung ist Liebe, vorausgesetzt, dass sie unter alle Kinder gleichmäßig aufgeteilt und nicht im Übermaß gegeben wird. Einer der schlimmsten unter den häufig gemachten Erziehungsfehlern ist die Verwöhnung der Kinder, weil sie sie um Mut und Selbstvertrauen bringt, aber es ist auch gefährlich, schwere Strafen anzuwenden... Das Selbstvertrauen des Kindes, sein persönlicher Mut ist sein größtes Glück."

    Organminderwertigkeit

    Ab 1906 entwickelte er dann seine Lehre von der Organminderwertigkeit, wonach alle Neurosen auf organische Minderwertigkeiten und die Kompensation derselben zur Überwindung dieser funktionellen Ausfälle zurückzuführen seien.

    Dies war ein origineller Ansatz, der einige moderne Auffassungen der Psychosomatik vorwegnahm. Er hatte zu einem sehr frühen Zeitpunkt einen Zusammenhang zwischen neurotischen und organischen Erkrankungen festgestellt. Allerdings vertrat er ein sehr reduziertes psychosomatisches Konzept: Zwar führt ein minderwertiges Organ zur Neurose, aber neurotische Konflikte führen bei Adler nicht zu Funktionsstörungen im Organismus. Das Verhältnis zwischen Psyche und Soma ist bei Adler also eine Einbahnstraße, die von heutigen modernen psychosomatischen Theorien überholt wurde.

    Der Versuch, die eine Theorie zu finden, die alle psychischen Mechanismen erklären könnte, war typisch für das Entdeckerfieber der Jahrhundertwende.

    Adlers Ideen wurden von Freud als eine wertvolle Ergänzung des Wissens über die Neurose aufgenommen.

    Libido als Hauptquelle der Dynamik des Seelenlebens

    Ab 1908 wandte sich Adler gegen Freuds Grundidee von der Libido als Hauptquelle der Dynamik des Seelenlebens. Er behauptete, es gebe einen Aggressionstrieb, den man nicht als Folge frustrierter Libido erklären könne; dieser spiele im normalen Leben wie in der Neurose eine nicht weniger wichtige Rolle als die Libido.

    Adler verlässt den organmedizinischen Bereich und wendet sich einer erlebnis-psychologischen Betrachtungsweise zu. Er spricht nun von dem Gefühl der Minderwertigkeit und vom Protest gegen dieses Gefühl, dem männlichen Protest, ein aggressives Streben nach Überlegenheit, welches den Kern der Neurose ausmache. Der männliche Protest war damit der Vorläuferbegriff des späteren Geltungsstrebens (heute würde man von narzisstischen Größenphantasien sprechen).

    Er beginnt eine Ich-Psychologie zu entwerfen. Er spricht von Sicherungen, wo Anna Freud später von Abwehrmechanismen sprechen wird.

    Mit dem Minderwertigkeitsgefühl und dem Geltungsstreben beschreibt er sehr zutreffend den Erlebnisaspekt von frühen narzisstischen Konflikten.

    Rainer Schmidt schreibt, Adler habe im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die Pathogenese früher Störungen ahnend, letztere einfühlend beschrieben, ohne dies freilich zu wissen.

    Freud interessierte sich zu dieser Zeit nicht für diese präödipalen Störungen. Sein System war weiterhin streng dualistisch, bestand aus Libido und Verdrängung. Er setzte Aggression mit Verdrängung gleich.

    Adler spürte, dass an diesem psychoanalytischen Modell etwas zu eng war. Er hatte beobachtet, dass nicht alle sexuellen Erlebnisse und Phantasien seiner Patienten eine sexuelle Wurzel hatten. Man würde heute den Abwehrmechanismus der "Sexualisierung", oder den Begriff des sexuellen Ausagierens aggressiver Konflikte für dieses Phänomen verwenden.

    Als nächstes setzt er sich mit dem Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes auseinander. Es sei ein Gefühlskomplex und kein Trieb und entwickele sich aus dem Tasttrieb, Schautrieb und Hörtrieb. Es sei sozial gerichtet, im Unterschied zu Freuds Libido.

    Die Befriedigung des Zärtlichkeitsbedürfnisses durch die Eltern kann verschoben werden auf den Lehrer und später auf die Gesellschaft.

    Viele seiner Gedanken werden durch die neuere Säuglingsforschung und auch durch die Bindungstheorie, die auf Bowlby zurückgeht, bestätigt.

    Adler bleibt aber ebenso monokausal wie Freud und schüttete das Kind mit dem Bade aus: es gehe nur um die Aggression, das Oben-Sein, das Macht-ausüben-Wollen. Das hing wohl auch mit dem unterschiedlichen Patientengut der beiden zusammen. Während Freud fast nur Patienten aus der Oberschicht behandelte und seine erste Hypothese ja die Verführungstheorie als Ursache für die Hysterie darstellte, behandelte Adler hauptsächlich Patienten aus der Mittel- und Unterschicht. Seine in der Mittwochsgesellschaft vorgestellten Patienten litten nach heutiger Sicht unter einer Basisstörung.

    Freuds hauptsächliches Ziel war es, die verborgenen Bereiche der menschlichen Psyche in die wissenschaftliche Psychologie einzugliedern. Bei Adler geht es um den Bereich der Menschenkenntnis, d. h. um das konkrete, praktische Wissen über den Menschen.

    Sigmund Freuds Kritik

    1911 kritisierte Freud Adlers Fallgeschichten folgendermaßen: Adlers Material seien Menschen mit schlampigen Konflikten, verdrehte und verschrobene Charaktere, aber keine wirklichen echten Hysterien und große Neurosen.

    Die Verständigung der beiden war so schwierig, weil jeder von seinem Standpunkt aus über beweiskräftige Argumente verfügte.

    Was Freud nicht sehen konnte, war, dass Adler es vorwiegend mit Patienten mit schweren Frühstörungen und psychosomatischen Krankheitsbildern zu tun hatte, dass seine Behandlungssituation keine privilegierte war und dass Adler instinktiv das Richtige für diese Patienten tat:

    • keine langen, die Regression fördernden Analysen im Liegen,
    • kein Ausgraben von unbewusstem Material,
    • kein aufdeckendes Deuten von Träumen und Fehlleistungen, sondern Ich- stärkende Maßnahmen
    • eine aktive, stützende Psychotherapie.

    Mit seinen Begriffen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben beschrieb er viele Jahre vor Melanie Klein, Kohut oder Kernberg narzisstische Konflikte, also präödipale Störungen und bewegte sich damit in einem Gelände, das Freud vernachlässigt hatte.

    Beachtlich ist Adlers Intuition für Veränderungen der Technik und des Settings, die in der Behandlung von Patienten mit Frühstöhrungen und ganz besonders Traumatisierungen notwendig sind und die einiges, was man in modernen psychoanalytischen Theorien zu narzisstischen Konflikten und Borderline- Störungen findet, vorwegnehmen.

    Das Konzept der Ermutigung lässt sich mit dem neuen Behandlungskonzept von Luise Reddemann verbinden.

    Auch wo es Adler nicht gelang, klare Begriffe zu formulieren, legte er seine Finger auf Schwachstellen der Psychoanalyse, wie sie um 1911 formuliert waren. Die Beziehung zwischen Freud und Adler war für die Psychoanalyse viel bedeutsamer, als Freud dies annahm und viele Psychoanalytiker das zugeben wollten.

    In einem Brief an Jung passierte Freud folgende Fehlleistung: "Adler bin ich endlos losgeworden." An Lou Andreas-Salomé schreibt Freud: "Der Brief zeigt seine (Adlers) Giftigkeit, ist sehr charakteristisch für ihn, ich glaube nicht, dass er mein von ihm gegebenes Bild Lügen straft. Reden wir deutsch: er ist ein ekelhafter Mensch."

    Die Kontroverse zwischen Freud und Adler berührte eine Reihe wichtiger Fragen der Theorie und Praxis der modernen Psychotherapie.

    1911 kam es zum Bruch zwischen Freud und Adler.

    Dieser hoffte lange auf eine Einigung und erlebte den Ausschluss als tiefe, langanhaltende persönliche Kränkung und Demütigung.

    Adlers Theorie der Neurose und anderer Verhaltensstörungen

    Ein Individuum, das eine falsche Meinung von sich und der Welt hat, d.h. ein Mensch mit falschen Zielen und einem falschen Lebensstil, greift nach verschiedenen Formen von abnormalem Verhalten, um seine Meinung von sich zu sichern, wenn er sich Situationen gegenüber sieht, von denen er glaubt, dass er ihnen aufgrund seiner falschen Anschauungen und der sich daraus ergebenden unzulänglichen Vorbereitung nicht erfolgreich begegnen kann. Der Fehler liegt darin, dass er sich mit sich beschäftigt, statt die menschliche Zusammengehörigkeit in Betracht zu ziehen. Das Individuum ist sich dieser Vorgänge nicht bewusst.

    Er spricht dann von einer neurotischen Disposition und spricht an anderer Stelle vom verzärtelten Lebensstil - das heißt verhältnismäßig inaktiv, da dieser Mensch von einem persönlichen Streben nach Überlegenheit erfüllt sei und deshalb in der Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühles zurückblieb.

    Auch der Begriff des neurotischen Arrangements (der heute häufig in den Schriften von Mentzos zu finden ist) nimmt dabei eine zentrale Stellung ein.

    Zitat Adler: "Der Neurotiker läuft seinen Ohrfeigen hinterher."

    Obwohl dem Menschen nicht bewusst, ist doch das Ich entscheidend. Das Ich erschafft das Persönlichkeitsideal, schätzt Erlebnisse ab und macht Arrangements. Neurotisches Verhalten sei stets ein Verhalten, das durch zwei Wörter ausgedrückt werden könne: Ja - Aber.

    Zitat Adler: "Unter Ja verstehe ich, daßss der Neurotiker common sense anerkennt... Dem Ja folgt immer das Aber. In diesem Aber findet man die ganze Stärke der neurotischen Symptome. Deshalb genügt der Neurotiker nie den Lebensproblemen, weil er mehr an dem interessiert ist, was er durch das Aber ausgedrückt hat, als an dem, was er durch das Ja ausgedrückt hat. Er begreift, was Gemeinschaftsgefühl ist, und das unterscheidet ihn zum Beispiel vom Psychotiker, aber er folgt dem Gemeinschaftsgefühl nicht."

    1. Gemeinschaftsgefühl als angeborenes Gegenmotiv zum
    Macht- und Geltungsstreben

    Adler spricht von den drei Lebensaufgaben: Gemeinschaftsleben, Arbeit und Liebe Nach seiner Meinung ist ein Mensch gesund, wenn er diese drei Lebensaufgaben gelöst hat.

    2. Lebensstil

    Manchmal gebraucht Adler auch die Begriffe Lebensplan, Lebenslinie, Gesamtlebenshaltung oder auch Einheit der Persönlichkeit. Er sagt, dass sich bereits im zwei- bis dreijährigen Kind die Anlagen und Richtlinien seines Lebensplanes in der Auseinandersetzung mit der Umwelt erkennen lassen. Darauf richtet das Kind sein Leben aus mit seinem Lebensstil.

    Das Erkennen dieses Lebensstiles mit seinen subjektiven Wahrnehmungen und den daraus resultierenden neurotischen Einschränkungen ist ein wichtiges Ziel in der Therapie bei den älteren Individualpsychologen gewesen. Es ging darum die neurotischen "Scheuklappen" zu beseitigen, den Horizont zu erweitern und dadurch neue Lösungsmöglichkeiten zuzulassen.

    So bezeichnete z. B. Adler die egozentrische Selbstliebe als einen Fehler im Lebensstil. Der Mensch ist seiner Meinung nach weder gut noch böse; wie er ist, hänge von der Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls ab.

    3. Als ob Prinzip - fiktives Ziel

    1911 war Vaihingers Werk "Die Philosophie des Als Ob" erschienen. Er war ein bedeutender Schüler Kants und ein Anhänger Schopenhauers.

    In seinem Werk entwickelte er den Fiktionalismus. Fiktionen sind nach Vaihinger Ideen (unbewusste miteingeschlossen), die in der Wirklichkeit kein Gegenstück haben, die aber doch die nützliche Funktion ausüben, uns zu befähigen, mit der Wirklichkeit besser fertig zu werden, als wir es sonst könnten.

    all men are created equal ist eine solche Fiktion, die obwohl sie im Gegensatz zur Wirklichkeit steht, ein Ideal von großem praktischem Wert darstellt. Diese Art von Fiktion kommt einer Arbeitshypothese nahe, obwohl ihre Wahrheit zweifelhaft ist. Der subjektive Charakter der Fiktion ist ein weiterer Aspekt, der für das Verstehen des Begriffs hilfreich ist. Nach Vaihinger ist das Subjektive fiktiv. Das bezeichnet Vaihinger mit "idealistischem Positivismus " oder "positivistischem Idealismus".

    Vaihingers idealistischer Positivismus war es nun, der Adler eine philosophische Grundlage für seine subjektivistische Psychologie gab, die zugleich annehmbar, ermutigend und anregend war.

    Als Adler dann die Begriffe der Fiktion und des Ziels miteinander verband, legte er seine Absicht mit hinein, dass die Kausalität subjektivistisch sei, dass sie nur in einem beschränkten Sinn deterministisch sei und dass sie unbewusste Prozesse einschließe.

    Adler hatte schon vorher die Beziehungen zur Zukunft des Individuums zum Mittelpunkt seiner dynamischen Psychologie gemacht.

    Zitat Adler: "Wir können jede einzelne Lebenserscheinung derart erfassen, als ob in ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft samt einer übergeordneten, leitenden Idee in Spuren vorhanden wären."

    Der Ausdruck fiktives Ziel drückt ebenfalls Adlers Überzeugung aus, dass der Ursprung des Ziels nicht auf objektive Ursachen zurückzuführen ist. Obgleich objektive Faktoren wie Anlage, Umwelt, Organminderwertigkeiten und Vergangenheitserfahrungen vom Individuum bei der Bildung des Endzieles gebraucht werden, ist letzteres doch eine Fiktion, eine Erdichtung, eine eigenständige Schöpfung des Individuums.

    Das fiktive Ziel ist für Adler etwas Unbewusstes. In mancher Hinsicht ist das fiktive Ziel ein Kunstgriff des Individuums, um sich, wie Münchhausen, selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Es leitet die Kompensation ein und es erzeugt positive Gefühle in der gegenwärtigen Situation, die die Minderwertigkeitsgefühle abschwächen.

    Zitat Adler: " Im Innern eines jeden Menschen existiert die Vorstellung eines Ziels oder Ideals, das darauf gerichtet ist, über den gegenwärtigen Zustand hinaus zu kommen und die gegenwärtigen Schwächen und Schwierigkeiten durch die Aufstellung eines konkreten Ziels zu überwinden. Mit Hilfe dieses konkreten Ziels kann sich das Individuum den Schwierigkeiten der Gegenwart überlegen fühlen, weil es den Erfolg der Zukunft im Auge hat."

    4. Der Begriff der Finalität bei Adler

    Der Philosoph Ernst Bloch beschreibt sein Ich als das eines Suchenden. Dieses Ich findet keine Ruhe bei sich, drängt aus sich heraus. Es ist nicht statisch, sondern dynamisch.

    Alfred Adler beschrieb die Bewegung des Menschen aus einer als Minderwertigkeit erlebten Unvollkommenheit auf eine als Fiktion gesetzte Vollkommenheit zu.

    Den Menschen verstehen heißt also, seine Ausrichtung auf ein final gesetztes Ziel durchschauen. Es geht nicht so sehr um das Warum, sondern um das Wohin.

    Die von der Fragmentierung bedrohte Persönlichkeit wird nach Adler zusammengehalten durch ein konkret gefasstes Ziel (individuelles Persönlichkeitsideal) im Rahmen des allgemeinen Überwindungsstrebens (Wille zur Macht, Leben, Evolution und menschliche Gemeinschaft).

    5. Die Bedeutung der Kindheitserinnerungen

    Zitat Adler: " Von allen psychischen Ausdrucksformen gehören die Erinnerungen eines Menschen zu den erhellendsten. In ihnen trägt er Ermahnungen an seine schwachen Seiten und Hinweise auf die Bedeutung gewisser Erlebnisse mit sich herum. Es gibt keine zufälligen Erinnerungen; aus der unberechenbar großen Anzahl von Eindrücken, die den Menschen treffen, wählt er nur jene als Erinnerungen aus, von denen er - wenn auch nur dunkel - spürt, dass sie für seine Entwicklung wichtig waren. So stellen seine Erinnerungen seine Lebensgeschichte dar, eine Geschichte, die er sich selbst erzählt, um sich zu warnen oder zu trösten, sich die Ausrichtung auf sein Ziel zu erhalten und sich darauf vorzubereiten, mit Hilfe verflossener Erfahrungen der Zukunft mit einem bereits erprobten Handlungsstil zu begegnen."

    Bereits 1907 vertrat Adler die Meinung, daß der Mensch seine Erinnerungen aktiv beeinflussen könne. Damit stand er mit seiner Hypothese, dass der Mensch nur wahrnimmt und im Gedächtnis festhält, was eine besondere Beziehung zu seiner Person hat, ganz auf dem Boden der modernen Wahrnehmungslehre. Die selektive Wahrnehmung schützt den Menschen vor einer Überflutung mit Eindrücken, die er nicht zu verarbeiten vermag.

    6. Geschwisterkonstellation

    Die Beachtung der Stellung in der Geschwisterreihe wird von Adler zu den wichtigsten Hilfen für das Verständnis des individuellen Lebensstils des Patienten gezählt. Die unausweichlichen und dauernden Interaktionen mit den Geschwistern bilden eine grundlegende Erfahrungsebene jedes Menschen. Mit jeder Position ist etwas Besonderes verbunden.

    7. Adler und das Frauenbild

    Adler sah die Sexualität unter dem Aspekt der Macht und diese sei männlich. Er sagt wörtlich: "Der Krebsschaden unserer Kultur ist der zu starke Vorrang der Männlichkeit." (1910) und an anderer Stelle: "Die Gleichstellung der Frau ist eine sehr dringende pädagogische Forderung. Herabsetzende Bemerkungen oder Handlungsweisen, die den Wert der Frau im allgemeinen bezweifeln, vergiften das Gemüt des Kindes und nötigen Knaben wie Mädchen, sich frühzeitig den falschen Schein einer übertriebenen Männlichkeit beizulegen."

    Am 11.3.1908 äußert Adler in der Mittwochgesellschaft: " Wie unter der Herrschaft des Privateigentums alles zum Privateigentum wird, so auch die Frau. Erst ist sie Besitz des Vaters, dann des Gatten. Dies bestimmt ihr Schicksal. Deshalb muss vor allem die Vorstellung des Eigentumsrechtes an einer Frau aufgegeben werden... Die Frau wird sich nicht hindern lassen, durch die Mutterschaft einen Beruf zu ergreifen."

    8. Der Ödipuskomplex ist für Adler ein Erziehungsfehler

    Freud beschrieb mit diesem Begriff (Laplanche) ein obligat in jeder kindlichen Entwicklung auftretendes, hereditär determiniertes, zentrales Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode. Der Ödipuskomplex hat zum Inhalt, dass das Kind etwa im Alter von 4 Jahren den gegengeschlechtlichen Elternteil sexuell begehrt und den gleichgeschlechtlichen Elternteil als Rivalen ausschalten will mit Mitteln, die bis zur phantasierten Tötung gehen.

    Adler bestreitet, dass der Ödispuskomplex angeboren, sein Durchleben unausweichlich und er eine alleinige Bildung des Kindes ist. Für Adler ist er eine Metapher für ein Produkt der verwöhnenden Erziehung. Das verwöhnte, verzärtelte Kind verlangt die Erfüllung aller Bedürfnisse von der Mutter und will keine Erweiterung seiner sozialen Beziehung auch auf den Vater hin.

    Von der Seite der Mutter ist die Entstehung des Ödipuskomplexes unter der Voraussetzung denkbar, dass die Mutter den Sozialisationsprozess des Kindes in Richtung Unselbständigkeit lenkt, d.h. ihre eigenen Abhängigkeitsbedürfnisse am Kind auslebt.

    9. Ermutigung und Einfühlung

    Diese sind zwei wesentliche Bestandteile der therapeutischen Vorgehensweise eines individualpsychologischen Analytikers. Das bekannteste Zitat Adlers zur Einfühlung ist: "Man muss mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören und mit dem Herzen des anderen fühlen, man muss sich mit ihm identifizieren."

    Damit meint er auch zu fühlen, zu erraten, was etwa in der Zukunft sein wird.

    Es ist auffallend, dass Freud nach dem ersten Weltkrieg die Aggression als Todestrieb in seine Lehre einfügte, während Adler mit dem neuen zentralen Begriff Gemeinschaftsgefühl eine Mischung aus sublimiertem Eros und Über-Ich-Inhalten in sein Theoriegebäude aufnahm. Beide Gründerväter kamen also nicht ohne den zentralen Leitgedanken des anderen aus, vermieden es aber, Begriffe zu verwenden, die an die Lehre des anderen erinnern könnten.

    Adler starb 1937 während einer Vortragsreise in Aberdeen. Nach dem Tod Adlers schrieb Freud Folgendes in einem Brief an Arnold Zweig 22.6.37:

    "Für einen Judenbuben aus einem Wiener Vorort ist ein Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis, wie weit er es gebracht. Wirklich hat ihn die Mitwelt für das Verdienst, der Analyse widersprochen zu haben, reichlich belohnt."